Gewalt und kein Ende…

Wie nur kann und soll das alles enden? Wie lässt sich der Irrsinn des Krieges stoppen?
Welche Wege gibt es aus dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt? Hat gewaltfreier Widerstand überhaupt eine Chance? Seit Jahrtausenden nimmt sich der Stärkere mit Gewalt, was er begehrt, oder zerstört das, wovor er sich fürchtet. Die Gier kennt keine Grenzen. Wer sich der Gier des Anderen mit eigenen Ansprüchen widersetzt, wird mit Hass überschüttet.
Warum ist das so? Alle Vergleiche mit den Raubtieren führen in die Irre – diese folgen ihrem Nahrungstrieb, und wenn sie satt sind, geben sie Ruhe. Nicht so der Mensch: Er verfügt über Fantasie. Diese kann ein Szenarium der Bedrohung erschaffen, und der Mensch reagiert auf diese imaginierte Bedrohung mit Gewalt. So werden Kriege angezettelt, auch heute. In Europa, und in den letzten Jahrzehnten auch weltweit: in Vietnam, in Afghanistan, im Irak, im Jemen, in Syrien, in Äthiopien…. Und es sind noch viel mehr.

Müssen wir uns damit abfinden, weil der Mensch eben so ist: böse oder Sünder oder fehlgeleitet oder ein Irrtum der Evolution? Handelt der Gewaltherrscher aus Kalkül oder im autoritären Wahn? Und: Was ist mit den eigenen Gewaltfantasien und Gewaltpotentialen?

Zunächst: Wir müssen – wirklich: müssen – versuchen, die Ursachen zu verstehen. Leidenschaftlich gegen die Gewalt aufstehen, leidenschaftlich für die Opfer eintreten. Ja. Aber auch mit rationaler Nüchternheit nach den Gründen für das Entsetzliche und vor allem nach Lösungen suchen. Beides gehört zusammen: das Aufbegehren gegen „das Böse“ und das Verstehen seiner Ursachen. Und das nicht nur im Hinblick auf Geschichte und aktuelle Nachrichten, sondern auch in Bezug auf unsere eigenen Ängste, Aggressionen und die Unfähigkeit zum Mitgefühl – im Großen wie im „Kleinen“.

Aus der Psychotherapie wie aus kollektiven Konfliktlösungsprogrammen kennen wir zwei Grundregeln: Man darf den Täter nicht mit der Tat identifizieren, und man muß dem anderen zuhören, um seine Gründe und Beweggründe zu verstehen. Sonst gibt es keine Lösungen. Denn nur wenn beide Seiten sich als Gewinner verstehen lernen, nur durch Wechselseitigkeit haben Lösungen Bestand. Außerdem ist zu unterscheiden zwischen dem russischen Präsidenten, der Gewalt befiehlt, und den Mitläufern, zumal auch im gegenwärtigen Krieg
viele im Widerstand sind, offen oder still. Das ist nicht nur eine Frage des Mutes, sondern auch der Umstände, und es steht niemandem zu den Stab zu brechen…

Und wenn nicht Gier oder Aggression, sondern Angst die Kriegs-Akteure treibt? Eine Angst, die in ein erschreckend brutales Handlungskalkül umgeschrieben wird? Eine Wurzel des menschlichen Desasters scheint mir die Angst zu sein. Angst vor dem Anderen, vor dem Fremden – auch in uns selbst. Das Fremde ist bedrohlich, wenn es nicht verstanden wird. Ich muss lernen, mit ihm umzugehen, es einzuhegen, Gemeinsames zu finden, wechselseitig. Vertrauen und Sicherung gegen die Angst – das kann es nicht gegen den Anderen, sondern nur mit dem Anderen geben. Und das ist eine Binsenweisheit auch der Militärgeschichte: Sicherheit gibt es nur wechselseitig, sie setzt ein Mindestmaß an Vertrauen voraus. Es braucht Zeit, ein solches aufzubauen; aber es kann sehr schnell zerbrechen – durch Lüge und Missbrauch von Vertrauen.

Angst hat viele Gesichter: Angst vor Ausgrenzung, Angst vor Machtverlust, Angst vor dem Tod, oder eher die unbestimmte Angst, die Fülle des Lebens nicht auszuschöpfen. Mit diffusen Ängsten scheint man eher umgehen zu können, wenn sie eine Gestalt bekommen, wenn sie also auf einen konkreten Gegner, eine konkrete Situation projiziert werden. Dann sieht man nicht mehr den Anderen, sondern das Zerrbild des Anderen, das im Spiegel der eigenen Ängste entsteht. Oder brauchen wir gar die Abwertung und Ausgrenzung „der Anderen“, um uns selbstgewiss auf der richtigen Seite im Club der Klugen oder Geretteten zu fühlen? Brauchen wir die „Hölle“ und die „Ketzer“, um uns im „Himmel“ als „Rechtgläubige“ ein wenig Angstfreiheit vorzugaukeln? So jedenfalls vermengen sich Ängste vor der Zukunft mit der Angst, die aus der Erinnerung von Vergangenem herrührt, Angst vor dem Vergessenwerden mit der Angst vor Einsamkeit und Versagen.

Ein Blick nicht nur in die Märchen und Mythen der Menschheit, sondern auch in die Geschichte lehrt, dass es zwar nie gleich, aber immer ähnlich ist: Ob die römischen Kaiser Nero oder Caligula, ob Stalin oder Pol Pot, ob Idi Amin oder Pinochet, ob die mörderischen Figuren in Shakespeares Königsdramen (Macbeth, Richard III.. Elisabeth I. gegen Maria Stuart und so viele mehr) – sie alle versuchen ihre Angst zu kompensieren und morden, um Unsicherheit zu überspielen und sich selbst Größe durch Demonstration von Macht zu verleihen. Aber die Angst holt sie ein, bis hin zum unabwendbaren Untergang.

Angst ist eine lebenserhaltende Funktion, die uns die Evolution mitgegeben hat: Sie macht wachsam. Manchmal hilf sie auch, neue Wege zu finden. Doch oft ist die der Angst folgende Schock- und Denkstarre fatal – dann lähmt die Angst und kann auch in blinde Aggression umschlagen. Ist es im Grunde die Angst vor dem Unbekannten, Nicht-Berechenbaren, die Angst, dass wir „es“ nicht „im Griff haben“?

In der Tat: Leben ist verletzlich. Es ist immer umgeben und durchdrungen von Sterben und Tod. Letztlich haben wir es nicht im Griff. Diese Einsicht entlastet, wenn wir ein Grundvertrauen ins Leben entwickelt haben. Leben zu schützen, soweit es geht, weil wir selbst im Leben von Leben leben, das wird wohl kaum ein vernünftiger Mensch bestreiten, denn diese Einsicht gründet im Faktischen. Wegen der Verletzlichkeit des Lebens streben alle Lebewesen nach Sicherheit. Aber was ist das? Die lateinische Sprache unterscheidet securitas und certitudo. Erstere soll durch Versicherungspolicen, durch Aufrüstungen aller Art, durch institutionelle Absicherungen hergestellt werden; sie ist in vieler Hinsicht sinnvoll, bleibt aber begrenzt und brüchig. Certitudo ist besser zu übersetzen mit Gewissheit, und das ist eine spirituelle Frage: Gibt es letztlich eine Ordnung, eine Harmonie, eine verlässliche Gewissheit? Etwas, das auch die Widersprüche und Verwerfungen des Lebens zusammenhält?
Was sind wirkungsvolle Gegenmittel gegen lähmende Angst, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft? Ist es Geborgenheit, ist es Sicherheit, ist es Vertrauen? Wie kommen wir von wolkiger Hoffnung zu Deutlichkeit? Wie können wir begründetes Vertrauen gewinnen, was sollen und können wir dafür tun?

Im Christentum weiß man: Alle Menschen sind Kinder Gottes. Im Buddhismus heißt es: Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur. Säkular gesprochen: Menschen sind, was sie sind, durch ihre Humanität. Dadurch kommt ihnen eine je eigene Würde zu, die unzerstörbar ist. Zu dieser Einsicht zu erwachen, ist oft ein langer Weg. Er kann leidvoll sein. Auf diesem Weg einander zu stützen und miteinander zu gehen, der Gewalttat zu widerstehen und gleichzeitig den Täter an seine Humanität zu erinnern, an seine Gotteskindschaft oder Buddha-Natur, das ist die Aufgabe. Wann jemand zur Einsicht kommt, wissen wir nicht. Aber es ist unser Vertrauen, dass auch diese Transformation möglich ist, denn sie ist eine Befreiung, auch für den Täter selbst. Gerade darum stellen wir uns gegen das zerstörerische Handeln solcher Menschen. Das ist die Basis für Strategien gegen die Angst. Und gegen den Irrsinn.

(Quelle: Facebook-Post von Michael von Brück vom 06.03.2022)